01.03.01 |
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36.
A. Für
die Frage, wie die nichtstaatliche aber staatsähnliche Supranationale Union
mit ihren weitreichenden Aufgaben aber ohne tatsächliche Machtmittel
gegenüber den Mitgliedstaaten überhaupt funktionieren kann, ist der Begriff
der Homogenität von Bedeutung. Er steht für die substantielle
Gleichartigkeit aller Mitgliedsverbände und des Gesamtverbandes, bzw., aus
Sicht des Ganzen formuliert, für substantielle Kohärenz. In der
Bundesstaatstheorie hat er längst einen festen Platz. Homogenität gehört zu
den Grundkategorien des Bundesstaates. Sie ist sowohl zur Sicherung des
föderalen Zusammenhalts durch Vermeidung und Begrenzung von möglichen
Konflikten als auch zum Erhalt einer funktionierenden vertikalen
Gewaltenteilung erforderlich. Diese Gründe lassen sie auch in föderalen
völkerrechtlichen Zusammenschlüssen notwendig scheinen, wenn auch natürlich
in einem geringeren Maße.
[46]
37.
Der Begriff der Homogenität bedarf einer
zweifachen Klarstellung: Erstens bedeutet Homogenität im Bundesstaat oder in
der Supranationalen Union Homogenität im Verband (föderale H.), nicht die
weitergehende Homogenität im Volk (nationale H. [C.
Schmitt] oder soziale H. [Heller]),
wie sie als Voraussetzung der Demokratie diskutiert wird. Wenn letztere in
einer demokratischen Union zum Problem wird, ist dies kein Problem der
Organisationsform sondern ein demokratietheoretisches Problem. Zweitens
bedeutet Homogenität nur Gleichartigkeit, nicht ‑förmigkeit,
Wesensverwandtschaft, nicht ‑gleichheit, ähnliche, nicht identische
Verhältnisse. Der Begriff steht für die Bandbreite zwischen
Heterogenität und Uniformität und ist von beiden Extremen abzugrenzen.
Homogenität ist immer nur bis zu einem bestimmten Grad, d.h. in einem
Mindestmaß erforderlich und daher nicht etwa zu „optimieren“. Wie weit
sie reichen muß, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Diese Relativität
des Homogenitätserfordernisses nimmt ihm das Kategorische, Isolierende.
So können, wenn der politische Wille und die Bereitschaft, Schwierigkeiten
durchzustehen, groß genug sind, Staaten in die Supranationale Union
aufgenommen werden, die sonst wegen unzureichender Homogenität keine Chance
hätten.
[47]
38.
B. Die
Notwendigkeit von Homogenität muß für jede Art von Verband besonders
untersucht werden, denn die Gründe und damit auch die Anforderungen werden
sich im Detail unterscheiden. Für die Supranationale Union lassen sich vier
Gründe und Anforderungsprofile ausmachen. In allen Fällen drohen
zerstörerische Konflikte, wenn die Anforderungen nicht erfüllt sind.
39.
Erstens ist Homogenität eine Voraussetzung
der Stabilität der Union als einheitlicher Lebensraum. Der entfesselte
Strom von Kapital, Gütern und Menschen darf nicht zu schweren Krisen in
einzelnen Mitgliedstaaten wie Konjunktureinbrüchen, Währungsverfall,
Massenab- oder zuwanderungen oder sozialen Spannungen führen. Deswegen bedarf
es der Homogenität der Lebensverhältnisse, d.h. der
zivilisatorischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in allen
beteiligten Staaten. Ernsthafte Probleme könnten sich in der Europäischen
Union mit der Osterweiterung ergeben. Diese müßte zur Sicherung der
Homogenität von einer Umverteilung von Mitteln von den alten in die neuen
Mitgliedstaaten begleitet werden.
[48]
40.
Zweitens ist Homogenität eine Voraussetzung
der Funktionsfähigkeit der Union als multipolares politisches System.
Damit sich ihre Tätigkeit zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt und
Reibungsverluste vermieden werden, bedarf es der Homogenität der
Verhaltensmaximen und Verhaltensmuster der Hoheitsträger. Dabei geht es
wie bei der Homogenität der Wertordnungen (s.u.) um Rechts- und
Verfassungshomogenität, wobei es hier allerdings maßgeblich auf den
praktischen Umgang mit dem Recht und damit auf die allgemeine Rechtskultur
ankommt.
[49]
41.
Drittens ist Homogenität eine Voraussetzung
der Integration. Diese bedarf eines tragfähigen Fundamentes gemeinsamer
Grundwerte und Leitideen. Das erklärt sich schon am Beispiel eines ihrer
Zwecke: Die Union soll als größere und mächtigere Einheit die Gewähr
dafür bieten, daß die Grundvorstellungen der Menschen von Sinn und Zweck
politischer Gemeinschaft, wie sie zunächst in den Nationalstaaten umgesetzt
worden sind, auch unter den Bedingungen der Globalisierung und
Georegionalisierung verwirklicht werden. Das ist jedoch schon logisch nur
möglich, wenn sie einander entsprechen. Außerdem wären sonst
Richtungskämpfe zu befürchten, die eine derart enge Gemeinschaft nicht lange
verkraften könnte.
42.
Die Homogenität der Wertordnungen
liegt in der wesentlichen Übereinstimmung der politisch-philosophischen
Grundwerte und Leitideen, die das politische System in den Mitgliedstaaten und
der Union prägen. Den unmittelbaren Vergleichsgegenstand bilden nicht die von
der jeweiligen Rechtstradition geformten verfassungs- bzw. primärrechtlichen
Institute und Grundsätze, sondern die abstrakteren staatstheoretischen
Grundvorstellungen, die hinter ihnen stehen. Diese müssen gleich oder
zumindest kompatibel sein. Außerdem müssen sie in vergleichbarem Maße
faktisch durchgesetzt sein. Erforderlich ist die Homogenität der realen
Wertordnungen, nicht der geschriebenen Wertvorstellungen, wie sie etwa dem
Europarat ausreicht, der trotz der Verpflichtung auf die Menschenrechte auch
Mitgliedstaaten mit häufigen schweren Menschenrechtsverletzungen in seinen
Reihen hält. Deswegen kommt zur Zeit eine Mitgliedschaft der Türkei in der
Europäischen Union trotz der Mitgliedschaft im Europarat nicht in Betracht.
[50]
43.
Viertens ist Homogenität eine Voraussetzung
eigener Ausstrahlungskraft und damit der Fähigkeit der Union, die
Menschen nicht nur rational sondern auch gefühlsmäßig an sich zubinden. Die
Supranationale Union muß ihren Bürgern wie vor ihr der Nationalstaat als „ihr“
Lebensraum, ihre Heimat erscheinen. Sie müssen sich mit ihr identifizieren,
d.h. in der Zugehörigkeit zur ihr ein Element ihrer eigenen Identität
entdecken können, ohne dafür allerdings die Identifikation mit ihrem
Nationalstaat aufzugeben (Mehrfachidentifikation). Dafür bedarf es besonderer
Merkmale, welche die einzelne Union speziell für ihre Bürger interessant und
attraktiv machen. Politisch-philosophische Grundwerte und Leitideen reichen
dafür nicht, werden sie doch in ihrer Universalität auch anderswo
verwirklicht. Es kommt vielmehr auf im weitesten Sinne kulturelle Faktoren an
- und damit auf Homogenität der Kulturen in der Union.
44.
Homogenität der Kulturen bedeutet
Zueinanderpassen der Kulturen. Erforderlich ist eine minimale
Grundübereinstimmung, die es ermöglicht, daß sich die Menschen, die in der
einen Kultur aufgewachsen sind, in dem von der anderen Kultur geprägten
Bereich trotz aller Unterschiede zurechtfinden und wohlfühlen. Außerdem muß
sich auf natürlichem Wege eine eigene kulturelle Identität der Union
herausbilden können, welche die Bürger in allen Mitgliedstaaten anspricht.
Regelmäßig wird das nur innerhalb desselben Kulturkreises der Fall sein. Die
Mitgliedschaft kulturkreisfremder Staaten kommt daher nur in eng begrenzten
Ausnahmefällen in Betracht.
[51]
45.
Für die Europäische Union stellt sich die
Frage nach den Grenzen der Osterweiterung. Der Beitrittsinteressent
Türkei gehört dem islamischen Kulturkreis an, was eine gesellschaftliche
Verflechtung, wie sie mit einer Integration verbunden wäre, aussichtslos
erscheinen läßt. Der Beitritt einiger osteuropäischer Staaten ist
problematisch, weil sich im christlich geprägten Europa zwei europäische
Kulturkreise, ein lateinisch-christlicher und ein orthodox-christlicher,
herausgebildet haben, was auch heute noch, erkennbar am Beispiel der
postkommunistischen Staaten, zu unterschiedlichen Entwicklungen führt. Die
Europäische Union ist bisher - auch in ihrem Recht - ganz dem
lateinisch-christlichen Kulturkreis verhaftet. Eine Entwicklung zu einer
paneuropäischen, beide europäischen Kulturkreise einschließenden Union mit
allen daran zu knüpfenden Konsequenzen ist nicht in Sicht. Das Beispiel der
Mitgliedschaft Griechenlands deutet darauf hin, daß die Europäische Union
eine lateinisch-christliche, m.a.W. westeuropäische bleiben wird, die sich
allenfalls geographisch nach Osten erweitert und Mitgliedstaaten aus dem
orthodox-christlichen Kulturraum ggf. eine einseitige Anpassung an die
westlichen Verhältnisse, insbes. die westliche Rechts-und Verwaltungskultur,
abverlangen wird.
[52]
46.
C. Die
Sicherung der Homogenität erfolgt in erster Linie durch eine am
Maßstab der Homogenität orientierte Erweiterungspolitik. Zusätzlich bieten
sich verschiedene gründungsvertragliche Instrumente an. So kann die
Homogenität der Lebensverhältnisse durch die Verpflichtung der Unionsorgane
und Mitgliedstaaten zur Berücksichtigung von Homogenitätsbelangen im Rahmen
ihrer Politiken geschützt werden (vgl. z.B. die Querschnittsaufgabe der EG
nach Art. 159 UA 1 S. 2 EGV). Als schärferes Mittel kann der Vertrag eine aktive
Homogenitätssicherungspolitik der Union vorsehen (vgl. Art. 158 UA 1 EGV,
der allerdings in der Zielsetzung über die bloße Sicherung der Homogenität
hinausgeht) und dafür auch Finanzierungsinstrumente bereitstellen (vgl. Art.
159 UA 1 S. 3 EGV). Ein horizontal wirkender abstrakter Finanzausgleich,
wie er in Bundesstaaten üblich ist, kommt nicht am Anfang der Integration,
wohl aber, in geringerem Ausmaß, in den letzten Jahren vor dem Übergang zum
Bundesstaat in Betracht. Bei einer krisenhaften Entwicklung der Wirtschaft
oder der öffentlichen Finanzen in einzelnen Mitgliedstaaten kann es
schließlich erforderlich sein, daß die Union Nothilfemaßnahmen
ergreift, um eine drohende Auflösung der wirtschaftlichen oder sozialen
Homogenität zu verhindern. Solche Maßnahmen führen zu erheblichen
Belastungen der anderen Mitgliedstaaten; das gilt es bei Neuaufnahmen zu
berücksichtigten.
[53]
47.
Wichtigster Schritt zur Sicherung der
Homogenität der Wertordnungen ist die Festschreibung der gemeinsamen
Grundwerte und Leitideen in einer Homogenitätsklausel im
Gründungsvertrag. Gefordert ist eine harte Rechtsnorm an hervorgehobener
Stelle im Abschnitt über die Grundlagen der Union, keine
Präambelproklamation. Dazu ist es in der europäischen Supranationalen Union
erst mit dem Amsterdamer Vertrag gekommen (vgl. Art. 6 I EUV; vorher bereits,
auf den Grundwert der Demokratie beschränkt, Art. F I, 2. HS EUV). Um der
Pluralität der Rechtsordnungen von Mitgliedstaaten und Union zu genügen,
sollten nur die staatstheoretischen Grundvorstellungen, nicht aber eine
bestimmte Art ihrer Umsetzung verbindlich festgeschrieben werden. Eine
Bezugnahme auf Rechtsgrundsätze aus derselben Rechtsordnung, wie sie in
bundesstaatlichen Homogenitätsklauseln anzutreffen ist (vgl. etwa Art.
28 I S. 1 GG: „im Sinne dieses Grundgesetzes“), verbietet sich
daher. - Weitere Schritte sind eine konsequente Umsetzung der gemeinsamen
Grundwerte und Leitideen im Recht der Union sowie Sanktionen gegen
Mitgliedstaaten bei schwerwiegenden Verstößen, wie sie nunmehr in der
Europäischen Union nach Art. 7 EUV, 309 EGV, 204 EAGV, 96 EGKSV möglich
sind; der Ausschluß wird dadurch als letztes Mittel aber nicht
ausgeschlossen.
[54]
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[46]
3-A.I
[47]
3-A.II/III.
[48]
3-B.I
[49]
3-B.II
[50]
3-B.III
[51]
3-B.IV.1/2.
[52]
3-B.IV.3.b
[53]
3-C.I/II.1
[54]
3-C.II.2
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