2. Kapitel: Eine neue Organisationsform: die Supranationale Union |
01.03.01 |
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13.
A. Die
europäische Integration hat mit der Europäischen Union bzw. vorher schon den
späten Europäischen Gemeinschaften ein europäisches Modell einer neuen Form
von Gemeinschaft hervorgebracht. Die Entwicklung läßt sich in vier
Phasen unterteilen. Am Anfang stand der Start mit einer supranationalen
Fachorganisation zur Kontrolle der Kohle- und Stahlwirtschaft (1952). In einer
zweiten Phase entstand eine auf Sachgebiete beschränkte institutionalisierte
westeuropäische Staatengemeinschaft, bestehend aus drei supranationalen
Organisationen, die eine einzige Handlungs- und Wirkungseinheit bildeten (1958
- 1967). In einer dritten Phase entwickelte sich diese durch mehrfache
Vertiefung und Erweiterung sowie Befreiung von der konzeptionellen Begrenzung
auf einzelne wirtschaftliche Sachgebiete zu einem allgemeinen
Integrationsverband fort (1967 - 1987). Aus dem Zweckverband wurde ein
ausbaufähiger institutioneller Rahmen für eine fortschreitende umfassende
Integration. Die vierte Phase (seit dem Inkrafttreten der EEA, 1987) ist eine
Phase der Konsolidierung und des Ausbaus des allgemeinen
Integrationsverbandes. Dessen Bedeutung wird durch die Existenz anderer
europäischer bzw. auch-europäischer Einrichtungen (Europarat, OSZE, EWR)
nicht relativiert.
[13]
14.
Die Europäische Union ist ein einheitlicher
Verband mit verstreuten institutionellen und rechtlichen Grundlagen. Sie
ist nicht als materiell-rechtlicher Verbund getrennter Einheiten (Klammer),
als Einheitsverband, in dem die Gemeinschaften verschmolzen sind, oder als
Säulen-Konstruktion zu verstehen, sondern als Gesamtverband mit
unterschiedlichen Handlungsträgern, nämlich Handlungsträgergesamtheiten
(den Gemeinschaften mit ihren Organen) und einzelnen Handlungsträgern (den im
Unionsvertrag mit Aufgaben betrauten Organen). Die Gemeinschaften sind
Bestandteile der Union, ihre Gründungsverträge Teile einer einheitlichen
Rechtsordnung. Als Gesamtinstitution verfügt die Union ebenso wie ihre
Bestandteile EG, Euratom und EGKS über eine eigene völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit.
[14]
15.
Die Europäische Union ist ein Herrschaftsverband
mit besonderen Kennzeichen, welche sich für eine Kategorienbildung
fruchtbar machen lassen. Das wichtigste ist ihre Eigenschaft als
supranationaler Integrationsverband. Die Union ist ein auf ausgesuchte Partner
beschränkter, langfristig angelegter, allumfassender Zusammenschluß, dem
seine Mitgliedstaaten im Hinblick auf die anvisierte gemeinsame Zukunft einen
über die ihm zugewiesenen Aufgaben hinausgehenden Eigenwert zuerkennen. Sie
erfüllt ihre Integrationsfunktion vornehmlich durch Wahrnehmung öffentlicher
Aufgaben im Wege der Ausübung supranationaler öffentlicher Gewalt, fungiert
aber auch als (organisatorisch-) institutioneller Rahmen für eine
formalisierte und institutionalisierte intergouvernementale Kooperation und
als Standort für das materielle Recht der Integration. Als allgemeiner
Herrschaftsverband ist sie konzeptionell offen für Aufgaben aller Art und aus
allen Politikbereichen. Durch ihre Dynamik hebt sie sich von den
herkömmlichen internationalen Organisationen, aber auch von den Staaten ab.
[15]
16.
Mit ihren besonderen Kennzeichen hat sich
die Europäische Union so weit von der hergebrachten supranationalen
Spezialorganisation entfernt, daß man die Aussagen zu dieser
Organisationsform nur noch bedingt auf sie beziehen kann. Sie ist daher einer
neuen Kategorie von Staatengemeinschaften zuzuordnen, für die der Begriff der
Supranationalen Union angemessen ist. Dieser läßt sich wie folgt definieren:
Eine Supranationale Union ist eine von mehreren Staaten zum Zwecke der
Integration gegründete, auf ständige Fortentwicklung angelegte,
konzeptionell für Aufgaben aller Art offene internationale Organisation,
welche ihrer Integrationsfunktion vor allem dadurch nachkommt, daß sie in
erheblichem Umfang durch Ausübung von Hoheitsgewalt in den Mitgliedstaaten
selbst öffentliche Aufgaben wahrnimmt.
[16]
17.
B. Nachdem
festgestellt worden ist, daß es sich bei der Europäischen Union um den
Vertreter einer neuen Organisationsform handelt, gilt es deren Stellung und
Rechtsnatur zu bestimmen. Die Supranationale Union vereinigt in sich alle
Merkmale einer supranationalen Organisation und eines Staatenbundes, geht aber
noch darüber hinaus. Sie ist also mehr als nur eine internationale oder
supranationale Organisation, mehr als nur ein Staatenbund und mehr als nur
eine Kombination dieser Organisationsformen.
[17]
Einige Besonderheiten, die sich in der Europäischen Union finden, lassen
bereits an eine besondere Form des Bundesstaates denken. Doch die
Supranationale Union ist kein Staat, und die Europäische Union kann kein
Bundesstaat werden, ohne die Organisationsform der Supranationalen Union zu
verlassen. Es handelt sich hier um eine eigenständige, auch rechtlich
gesondert zu betrachtende, neue völkerrechtliche Organisationsform.
[18]
18.
Die Unterscheidung zwischen dem Staat und
den nichtstaatlichen Organisationsformen wird durch das Völkerrecht
vorgegeben. Dieses ist nämlich, weil es auf dem Prinzip der
Territorialstaatlichkeit, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der
Rechtsfigur der Souveränität aufbaut, darauf angewiesen, daß sich die „natürlichen“
völkerrechtlichen Zurechnungseinheiten, denen die unabgeleiteten
völkerrechtlichen Positionen zukommen sollen, d.h. die Staaten, jederzeit
eindeutig bestimmen lassen. Unter mehreren vertikal miteinander verbundenen
Herrschaftsverbänden unterschiedlicher geographischer Größenordnung
(lokaler, regionaler, nationaler, geo-regionaler, globaler Größenordnung),
kann immer nur einer für sich beanspruchen, Staat zu sein. Nur dieser eine
genießt den mit dieser Stellung verbundenen völkerrechtlichen
Existenzschutz, die Souveränität und die damit verbundene Kontrolle über
alle auf sein Hoheitsgebiet einwirkende Hoheitsgewalt.
[19]
Mischformen zwischen Staat und Nichtstaat oder eine geteilte Staatlichkeit
kann es unter dem heutigen Völkerrecht nicht geben.
[20]
Die Supranationale Union ist in dieser vorgegebenen strikten Einteilung der
Organisationsformen auf der Seite der völkerrechtlichen Verbände
angesiedelt, also konzeptionell nichtstaatlich. Sie gründet sich anders als
der Bundesstaat auf eine andauernde Freiwilligkeit der Mitgliedschaft und der
Mitarbeit ihrer Mitgliedsverbände.
[21]
Sie weist aber bereits ausgeprägte Parallelen zu einem Staat auf, die sich
bei der einzelnen Union im Laufe ihrer Entwicklung verstärken werden. Diese
zweifache Prägung als nichtstaatliche aber staatsähnliche
Organisationsform wirkt sich in zahlreichen staatstheoretischen und
rechtlichen Zusammenhängen aus.
[22]
19.
Die Supranationale Union hat sich als eine spezifische
Organisationsform für den Übergang vom Nationalstaat zum
Kulturkreis-Bundesstaat herausgebildet.
[23]
Sie ist objektiv darauf angelegt, die von der Globalisierung und
Georegionalisierung dauerhaft überforderten Nationalstaaten in einem
Integrationsprozeß zu einem Vereinigungs-Bundesstaat, voraussichtlich einem
Kulturkreis-Bundesstaat, zusammenzuführen. Ihre objektive Zielgerichtetheit
bedeutet indessen nicht, daß sie nicht auch scheitern kann. Lediglich eine
lang anhaltende Stagnation erscheint aufgrund ihrer Dynamik ausgeschlossen.
[24]
20.
Die Rolle der Supranationalen Union liegt
neben der Erfüllung von Sachaufgaben in der schrittweisen, schonenden
Zusammenführung der Mitgliedstaaten und später in der gründlichen,
problembewußten und bereits erfahrungsgestützten Vorbereitung der
Staatsgründung selbst.
[25]
Die einzelne Union kann jenen letzten Schritt nur vorbereiten und als solche
nicht überdauern. Die Staatswerdung selbst setzt die völkerrechtliche
Willenserklärung jedes der beteiligten Staaten über den Übergang der
Staatlichkeit voraus.
[26]
Ein rechtsstaatlicher Übergang wird außerdem in den meisten Mitgliedstaaten
eine Neuverfassunggebung erfordern. Die Organe einer rechtsstaatlich
orientierten Supranationalen Union wie der Europäischen müssen ggf.
Bestrebungen in den Mitgliedstaaten, sich über geltendes Verfassungsrecht
hinwegzusetzen, entgegentreten. Schon deswegen ist ein „Hineinschlittern“
in einen europäischen Bundesstaat nicht zu befürchten.
[27]
21.
C. (I.-V.)
Die Stellung des Staates in
der Supranationalen Union läßt sich im wesentlichen mit zwei zentralen
Aussagen umschreiben. Die erste lautet, daß der Staat mitgliedschaftliche
Grundpflichten hat, die sich notwendigerweise unmittelbar aus seiner
Beteiligung an einer auf eine gemeinsame Zukunft gerichteten engen politischen
Gemeinschaft ergeben und infolgedessen auch dann bestehen und von
Rechtsprechung und Lehre herauszuarbeiten sind, wenn sie im Gründungsvertrag
nicht ausdrücklich, nicht deutlich oder nicht vollständig geregelt worden
sind. Einige sind möglicherweise nur abstrakt über einen Grundsatz der
Unionstreue normiert (vgl. in der EU Art. 10 EGV, 192 EAGV, 86 EGKSV).
Die mitgliedschaftlichen Grundpflichten umfassen im einzelnen die Pflicht zur
Achtung des Primär- und Sekundärrechts der Union, zur Zusammenarbeit mit den
anderen Mitgliedstaaten und den Unionsorganen, zur Mitwirkung in den
Unionsorganen und zur Treue und Solidarität gegenüber der Union und den
anderen Mitgliedstaaten.
[28]
22.
Die zweite zentrale Ausage lautet, daß die
staatliche Souveränität bis zur eventuellen Umwandlung der Union in einen
geo-regionalen Vereinigungs-Staat unbeeinträchtigt bleibt. Denn sie kann,
weil etwas Absolutes und als völkerrechtlich vorgegebenes Attribut untrennbar
mit der Staatlichkeit verbunden, nur als Ganzes, nämlich zusammen mit der
Staatlichkeit übertragen werden. Dafür bedarf es also ebenfalls der
erwähnten völkerrechtlichen Willenserklärung über den Übergang der
Staatlichkeit, mit der der Mitgliedstaat aufhört, Staat zu sein, und der
Integrationsverband seine Qualität als Supranationale Union verliert. Die unbeeinträchtigte
Souveränität des Staates erklärt sich als die zwangsläufige Folge des
Zusammentreffens zweier Faktoren, nämlich des Festhaltens des Völkerrechts
in seinen Grundlagen am Konzept des ausschließlich souveränen
Territorialstaates einerseits und der konzeptionellen Nichtstaatlichkeit der
Supranationalen Union als Organisationsform des Überganges andererseits.
[29]
23.
Kraft seiner unbeeinträchtigten
Souveränität behält der Staat ungeachtet aller „Übertragungen“ von
Hoheitsrechten eine uneingeschränkte Hoheitsgewalt. Die Kontrolle
über alle auf sein Hoheitsgebiet einwirkende Hoheitsgewalt
[30]
geht ihm nicht verloren - kann ihm als „natürlicher“ völkerrechtlicher
Zurechnungseinheit nicht verlorengehen. Deswegen kann es sich bei der
Ausstattung der Union mit Hoheitsrechten weder um eine Übertragung noch um
eine Beschränkung staatlicher Hoheitsrechte im dinglichen Sinne handeln. Ein
solcher Vorgang wäre schon theoretisch nicht vorstellbar, ohne die
Rechtsfigur der Souveränität, die der Sicherung der territorialstaatlich
organisierten Selbstbestimmung der Völker dient, und damit die Grundlagen des
Völkerrechts schlechthin in Frage zu stellen. Der Mitgliedstaat hat zwar
nicht das Recht, wohl aber die rechtliche Fähigkeit, ohne Rücksicht auf den
Gründungsvertrag alle Hoheitsgewalt wieder an sich zu ziehen oder neu zu
verteilen. Hoheitsakte, die er vertragswidrig vornimmt, sind rechtlich
wirksam; Hoheitsakte der Union, denen er vertragswidrig die innerstaatliche
Wirkung abspricht, verlieren auf seinem Staatsgebiet ihre hoheitliche Wirkung.
[31]
24.
Kraft seiner unbeeinträchtigten
Souveränität behält der Staat ferner die uneingeschränkte rechtliche
Fähigkeit zur Teilnahme am völkerrechtlichen Verkehr, und zwar selbst in
den Bereichen, die im Gründungsvertrag einer gemeinsamen oder
vergemeinschafteten Außen- und Sicherheitspolitik überantwortet sind. Damit
bleibt er auch in der Integration als (zumindest potentieller) individueller
Ansprechpartner für Drittstaaten interessant.
[32]
Außerdem behält er die uneingeschränkte rechtliche Fähigkeit zur
Selbstorganisation, was übertragen in die tradierte Begriffswelt der
Verfassungstheorie bedeutet, daß die Macht des pouvoir constituant auch im
integrierten Staat eine uneingeschränkte ist. Verfassungsrecht, das dem
Unionsrecht widerspricht, ist rechtlich wirksam und kann rechtlich wirksam
umgesetzt werden. Es ist zwar soweit möglich unionsrechtskonform auszulegen
und kann in der Anwendung durch das entgegenstehende Unionsrecht verdrängt
werden. Einen endgültigen (absoluten) Vorrang des Unionsrechts, auch
für den Fall des äußersten Konfliktes, kann es in der
nichtstaatlichen Supranationalen Union mit ihren staatlichen (souveränen)
Mitgliedsverbänden aber nicht geben. Er kann auch nicht wirksam im
Gründungsvertrag vereinbart werden.
[33]
25.
Der Staat bleibt auch in der Integration der
Letztverantwortliche
[34]
.
Er muß seinen Bürgern wie jeder andere Staat die Gewißheit bieten, daß
durch ihn umfassend für Freiheit, Sicherheit und Hilfe in der Not gesorgt
ist. Dieser staatstheoretische Anspruch an den Staat ist die Kehrseite der
Souveränität des Staates. Beim integrierten Staat beschränkt sich die
Wahrnehmung der Letztverantwortung zwar immer mehr darauf, daß er bestimmte
Aufgaben nicht mehr aus eigener Kraft bewältigt, sondern an die Union und
andere völkerrechtliche Einrichtungen delegiert und sich nunmehr auf die
Mitwirkung in deren Organen konzentriert. Ein wesentlicher Rest tatsächlicher
Letztverantwortung liegt dabei aber in der Entscheidung, auf welche Weise und
mit welcher Intensität er sich in internationale und supranationale
Strukturen einbindet und mit wem er sich ggf. in einer Supranationalen Union
zusammenschließt. Diese Entscheidung muß er zu jedem Zeitpunkt seinen
Bürgern gegenüber rechtfertigen. Dabei geht es nicht nur um die vollzogenen
sondern auch die versäumten Integrationsschritte und etwaige darauf
zurückzuführende Lücken bei der Bewältigung der Herausforderungen der
Globalisierung und Georegionalisierung. Deswegen kann sich die
Letztverantwortung des Staates auch darin manifestieren, daß er sich aus
einer Supranationalen Union zurückzieht, um sich einer anderen
anzuschließen, von der er eine bessere Entwicklung erwartet, oder zusammen
mit anderen Staaten, möglicherweise einigen der bisherigen
Integrationspartner, eine neue zu gründen. Die in Europa verbreitete Sicht,
daß es nur eine einzige europäische Union geben könne, an der alle
europäischen Staaten auf Dauer zu beteiligen seien und die der einzelne Staat
letztlich so, wie sie sei, alternativlos hinnehmen müsse, läßt diesen
wichtigen Aspekt der Letztverantwortung unbeachtet.
[35]
26.
Der Mitgliedstaat hat aus
staatstheoretischer Perspektive einen Anspruch auf Mitentscheidung bei
grundlegenden Veränderungen der Union. Für wichtige Änderungen des
Gründungsvertrages sowie für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten sollte daher
an dem Erfordernis der Zustimmung aller Mitgliedstaaten festgehalten werden,
auch wenn das Recht der völkerrechtlichen Verträge andere Lösungen
zuläßt.
[36]
Aus staatstheoretischer Perspektive sollte die Union ferner nach dem Grundsatz
der mitgliedschaftlichen Gleichheit konstruiert sein, der auf
substantielle (materielle) Gleichheit zielt und die gegenseitige Anerkennung
der Mitgliedstaaten als gleichwertige Integrationspartner widerspiegelt.
Forderungen nach Vetorechten für große Mitgliedstaaten oder
Netto-Beitragszahler sind daher zurückzuweisen; eine ungleiche
Repräsentation oder Stimmengewichtung in den Organen ist hingegen unter dem
Gesichtspunkt der Gleichheit der Unionsbürger gerechtfertigt.
[37]
27.
(VI.)
Austritt und Ausschluß gehören zu den heikelsten Problemstellungen
der Integration in der Supranationalen Union. Sich damit zu befassen, heißt
einzugestehen, daß der Integrationsprozeß mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit nicht nur die angenehme Erfahrung der Annäherung sondern
auch Enttäuschungen und Auseinandersetzungen mit sich bringen wird. Aus
staatstheoretischer Perspektive sind Lösungen geboten, die eine rechtlich
unproblematische und schonende Trennung erlauben. Der Austritt eines Staates
muß schon nach dem Konzept der andauernden Freiwilligkeit der Integration
möglich sein, aber auch deswegen, weil eine nachhaltige Integration eine
nachhaltige Entscheidung aller beteiligten Staaten für die Integration
voraussetzt und diese in einem niemals aufhörenden, freien politischen
Prozeß immer wieder erneuert oder bestätigt werden muß. Außerdem setzt die
Wahrnehmung der Letztverantwortung die Option des Rückzugs voraus. Faktisch
läßt sich ein austrittswilliger Mitgliedstaat ohnehin nicht halten, denn er
kann kraft seiner aus der Souveränität fließenden Rechtsmacht einen Zustand
herbeiführen, bei dem das Mitgliedschaftsverhältnis innerstaatlich nicht
mehr spürbar ist. - Der Ausschluß muß als äußerstes Mittel möglich sein,
um zu verhindern, daß die Union aufgrund schwerwiegender mitgliedstaatlicher
Rechtsbrüche ihre Glaubwürdigkeit als Rechtsgemeinschaft oder ihre
Leistungsfähigkeit verliert, mit der sie zugleich ihre Legitimität
einbüßen würde. Außerdem muß die Integrationsgemeinschaft reagieren
können, wenn sich einer der Partner von den gemeinsamen Grundwerten und
Leitideen abwendet. Das Sanktionsmittel des Ausschlusses ist das notwendige
Korrelat zur unbeeinträchtigten Souveränität des Staates.
[38]
28.
Die dogmatisch unproblematische Lösung
eines Austrittsvertrages ist kaum praktikabel, weil sie allseitiges
Einvernehmen voraussetzt. Austritt und Ausschluß sollten daher mitsamt ihren
Modalitäten (Frist, Form, Verfahren, politische Grundlage, Rechtsschutz) im
Gründungsvertrag geregelt werden. Das Austrittsrecht sollte ausdrücklich
gewährleistet, die Ausschlußkompetenz auf die beiden Ausschlußgründe des
häufigen oder andauernden schweren Vertragsbruches und des Verlassens der
gemeinsamen Wertegrundlage beschränkt werden.
[39]
29.
Die Gründungsverträge der Europäischen
Union regeln diese Fragen nicht. Ihre Geltung „auf unbegrenzte Zeit“ (Art.
51 EUV, 312 EGV, 208 EAGV) ist im Sinne von „auf unbestimmte Zeit“ und
nicht „auf ewige Zeit“ zu verstehen. Aus ihrem Schweigen kann nicht
geschlossen werden, daß die Vertragsparteien das spätere Ausscheiden von
Mitgliedstaaten hätten ausschließen wollen. Die Bedingungen richten sich
nach dem allgemeinen Recht der völkerrechtlichen Verträge, das hier trotz
seiner Subsidiarität zur Anwendung gelangt, weil den Gründungsverträgen
keine rechtliche Aussage zu entnehmen ist. Rechtstechnisch stellt sich der
Austritt als Kündigung des Gründungsvertrages dar. Die Möglichkeit des
Ausschlusses kann nur als Ausschlußrecht der anderen Mitgliedstaaten durch
Kündigung des Gründungsvertrages gegenüber dem auszuschließenden Staat
realisiert werden. Eine Ausschlußkompetenz der Union besteht nicht. Dafür
bedürfte es einer vertraglichen Regelung.
[40]
30.
Für den Austritt gibt es im Recht der
völkerrechtlichen Verträge mehrere mögliche Grundlagen. Ein Austrittsrecht
wegen erheblicher Vertragsverletzung der anderen (Art. 60 II lit. a
WVRK) wird in der Supranationalen Union kaum aktuell werden, denn der
Mitgliedstaat ist auf die im Gründungsvertrag vorgesehenen rechtlichen Mittel
verwiesen (vgl. Art. 60 IV WVRK sowie für die EU Art. 292 EGV, 193 EAGV,
87 EGKSV). Es kann jedoch nach erfolgloser Ausschöpfung dieser Mittel bei
schwerwiegenden einvernehmlichen Vertragsverstößen der anderen
Mitgliedstaaten und der Unionsorgane in Betracht kommen, etwa in dem Falle,
daß die verweigerte Zustimmung zu neuen Kompetenzen von den Unionsorganen mit
Billigung der anderen Mitgliedstaaten durch offensichtlich willkürliche „großzügige“
Auslegung der bestehenden Kompetenzvorschriften „kompensiert“ wird. Ein
Austrittsrecht nach der clausula rebus sic stantibus (Art. 62 WVRK) wird
regelmäßig daran scheitern, daß die Union gerade zu dem Zweck geschaffen
worden ist, unvorhergesehenen Entwicklungen wie z.B. Wirtschaftskrisen
gemeinsam zu begegnen. Es kann sich aber bei unerwarteten oder unerwartet
ausgebliebenen Veränderungen des Mitgliederbestandes der Union ergeben, etwa
wenn ein besonders nahestehender anderer Staat aus der Union ausscheidet oder
entgegen früherer Zielsetzung nicht aufgenommen wird. Grundsätzlich bedarf
es des Rückgriffs auf diese außerordentlichen Austrittsgründe aber nicht,
denn wenn der Gründungsvertrag den Austritt nicht positiv einschränkt,
ergibt sich in der Supranationalen Union ein freies Austrittsrecht aus der
Natur des Vertrages als Integrationsvertrag (Art. 56 I lit. b WVRK).
Nicht die kurzsichtige Absicherung des erreichten Integrationsstandes um jeden
Preis sondern die nachhaltige Integration ist das Ziel des
Integrationsvertrages, und dafür ist die Freiwilligkeit der Beteiligung in
jeder Phase der Integration eine unerläßliche Voraussetzung.
[41]
31.
Der Ausschluß eines Mitgliedstaates kommt
nur als letztes Mittel in Betracht. Nach dem Recht der völkerrechtlichen
Verträge ist er nach der clausula rebus sic stantibus (Art. 62 WVRK) und bei
erheblicher Vertragsverletzung (Art. 60 II lit. a WVRK) zulässig.
Einziger ersichtlicher clausula-Fall ist das Verlassen der gemeinsamen
Wertegrundlage, wenn letztere nicht wie heute in der Europäischen Union
(vgl. Art. 6 I EUV) vertraglich geregelt und deswegen Art. 60 II lit. a
WVRK einschlägig ist. Wer in einem Mitgliedstaat einer
freiheitlich-demokratischen Supranationalen Union eine Diktatur errichtet,
muß also in letzter Konsequenz auch mit dem Ausschluß rechnen.
32.
Der Ausschluß wegen erheblicher
Vertragsverletzung setzt eine schwerwiegende aber nicht notwendigerweise
schwerste Vertragsverletzung voraus („material breach“, nicht „fundamental
breach“). Sie ist im wesentlichen dann anzunehmen, wenn ein Mitgliedstaat
eine seiner mitgliedstaatlichen Grundpflichten nicht oder grob unzureichend
erfüllt, beispielsweise die Arbeit der Unionsorgane über einen erheblichen
Zeitraum hinweg erpresserisch blockiert, durch eigenmächtige außenpolitische
Aktionen, die der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zuwiderlaufen,
erheblichen außenpolitischen Schaden anrichtet oder erhebliche Teile des
Unionsrechts auf seinem Staatsgebiet nicht umsetzt, nicht ausführt oder nicht
effektiv durchsetzt. Als ein vorletztes rechtliches, wenn auch bereits
außervertragliches Mittel kommt vor der Kündigung die Suspendierung
des Gründungsvertrages in Betracht, zu der Art. 60 II lit. a WVRK unter
denselben Voraussetzungen berechtigt.
[42]
33.
Einen Sonderfall bildet die beharrliche
Nichtumsetzung bzw. -ausführung einzelner Sekundärrechtsakte der
Union. Ein Mitgliedstaat, der trotz Verurteilung durch den Gerichtshof der
Union die notwendigen innerstaatlichen Schritte verweigert, stellt sich
bewußt außerhalb des Gründungsvertrages und begründet grundsätzliche
Zweifel an seiner Bereitschaft zur korrekten Erfüllung seiner
mitgliedschaftlichen Grundpflichten. Deswegen ist der Vertragsbruch schon im
Falle einer einzelnen Richtlinie oder Verordnung so schwerwiegend, daß er die
Voraussetzungen des Art. 60 II WVRK ohne weiteres erfüllt. Der Mitgliedstaat
kann auch nicht geltend machen, der Rechtsakt sei rechtswidrig, denn die
Einschätzung des Unionsgerichtshofes ist für ihn verbindlich. Setzt er sich
darüber hinweg, wiegt die Mißachtung der Unionsgerichtsbarkeit nicht
weniger schwer als die verweigerte Umsetzung bzw. Ausführung des
Sekundärrechts. Mit der einheitlichen Geltung und Anwendung des Unionsrechts
berührt sie eine Lebensgrundlage der Supranationalen Union. Abgesehen von den
Fällen, in denen die Grenzen des nach dem nationalen Verfassungsrecht
Übertragbaren überschritten werden, endet die Gehorsamspflicht gegenüber
der Unionsgerichtsbarkeit erst dort, wo die Entscheidung so offensichtlich und
schwerwiegend falsch ist, daß sie nur noch als Willkür eingestuft werden
kann. Diese Gehorsamspflicht gilt unterschiedslos für alle
mitgliedstaatlichen Organe. Maßt sich ein staatliches Gericht, z.B.
Verfassungsgericht, die Letztentscheidung in Unionsrechtsfragen an, müssen
die anderen staatlichen Organe die drohende schwerwiegende Vertragsverletzung
dadurch abwenden, daß sie die usurpatorische Gerichtsentscheidung durch die
erforderlichen gesetzlichen, ggf. auch verfassungsändernden Maßnahmen
unschädlich machen. Fehlentwicklungen der Unionsrechtsprechung sind durch
klarstellende Ergänzungen des Gründungsvertrages und ggf. restriktive
gründungsvertragliche Leitlinien für die zukünftige Rechtsprechung zu
korrigieren.
[43]
34.
D. Die
Hoheitsgewalt der Supranationalen Union unterscheidet sich nicht von
der einer herkömmlichen supranationalen Organisation. Es ist eine
Hoheitsgewalt mit staatenübergreifendem, geo-regionalen Wirkungskreis. Es ist
dieselbe Gewalt, die von demselben Hoheitsträger unter denselben Bedingungen
im gesamten Unionsgebiet ausgeübt wird. Es handelt sich damit
notwendigerweise um eine eigenständige, zusätzlich zu den staatlichen
Gewalten der Mitgliedstaaten geschaffene, eigene Gewalt des supranationalen
Hoheitsträgers. Sie ist nur den spezifischen Bindungen aus ihrer eigenen
Rechtsordnung unterworfen. Sie ist nicht im hierarchischen Sinne
überstaatlich und im Gegensatz zur staatlichen Gewalt notwendigerweise
begrenzt. Sie ist nicht in Existenz, Ausmaß und Grundausrichtung, wohl aber
in der konkreten Ausübung autonom, und zwar auch gegenüber den
Mitgliedstaaten, die sie nur in ihrer Funktion als „Herren der Verträge“,
d.h. als Kollektiv im aufwendigen Verfahren der Vertragsänderung korrigieren
können. Als neue, zusätzliche Gewalt ist sie nicht im eigentlichen Sinne „abgeleitet“,
als von Anderen geschaffene Gewalt aber auch nicht im eigentlichen Sinne „originär“.
- Andere Konstruktionen sind denkbar, würden aber nicht mehr unter den
Begriff der Supranationalität fallen.
[44]
35.
Die supranationale öffentliche Gewalt
entsteht in zwei Schritten. Beim ersten Schritt, der Errichtung des
supranationalen Hoheitsträgers, werden die Gründerstaaten kollektiv als „Herren
der Verträge“ tätig; ein einzelner Staat kann supranationale Gewalt weder
begründen noch aufrecht erhalten noch zum Erlöschen bringen. Der zweite
Schritt ist ein staatsrechtlicher, den die Gründerstaaten naturgemäß im
Alleingang vollziehen müssen. Unter der Geltung des
souveränitätsorientierten Völkerrechts liegt der Ursprung aller
öffentlichen Gewalt in der Souveränität des Staates, was bedeutet, daß es
keine öffentliche Gewalt geben kann, die nicht auf einen Willensentschluß
des Staates zurückzuführen ist. Für die Entstehung der supranationalen
öffentlichen Gewalt bedarf es daher zusätzlich zur Errichtung des
supranationalen Hoheitsträgers der einzelstaatlichen Anordnung der
innerstaatlichen hoheitlichen Bindungswirkung in mindestens zwei
Mitgliedstaaten. Sie ist bereits Erfüllungshandlung zum Gründungsvertrag.
Sie ist ein rechtsgestaltender Akt, der den mit hoheitlichem Anspruch
getroffenen supranationalen Maßnahmen erst die Rechtsnatur eines
innerstaatlich bedeutsamen Hoheitsaktes verschafft. Der oft bemühte „Rechtsanwendungsbefehl“
ist genau genommen nur eine Begleitverfügung, die sicherstellen soll, daß
die Hoheitsqualität der supranationalen Maßnahmen tatsächlich beachtet
wird.
[45]
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[13]
2-A.I
[14]
2-A.II.1.b
[15]
2-A.II.1.a/c-e.
[16]
2-A.II.2/3
[17]
2-B.I/II
[18]
2-B.III/IV.1.
[19]
2-B.III.1.b
[20]
2-B.III.1
[21]
2-B.III.2.b.
[22]
2-B.IV.3
[23] Zum Faktum der Herausbildung 2-B.IV.2.
[24]
2-B.IV.4.a/b
[25]
2-B.IV.4.c
[26]
2-B.III.1.c
[27]
2-B.III.2.c
[28]
2-C.I
[29]
2-C.II
[30]
2-B.III.1.b.cc
[31] 2-C.II.1; ferner 2-D.III.
[32] 2-C.II.2.
[33] 2-C.II.3.
[34] Zum Begriff 1-A.I.3.d.
[35] 2-C.III.
[36] 2-C.IV.
[37]
2-C.V
[38]
2-C.VI.1/2.a/3.a
[39]
2-C.VI.2.b/3.b
[40]
2-C.VI.2.b-c/3.b-c
[41]
2-C.VI.2.c.aa-cc
[42]
2-C.VI.3.c.aa/bb
[43]
2-C.VI.3.c.cc
[44]
2-D
[45]
2-D.II.
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